QuartierPflege IT-Systemlandschaft

Motivation

Freiwilliges Engagement in Sorgegemeinschaften kann Angehörige von Pflegebedürftigen erheblich entlasten und den Fachkräftemangel in der Pflege abmildern. In den Sorgegemeinschaften der QuartierPflege kooperieren informell engagierte und professionelle Akteurinnen und Akteure vernetzt und in enger Abstimmung. Eine solche Gemeinschaft braucht eine effiziente Organisation, um informell Pflegende zu entlasten. Interaktive Technologien können dabei helfen.

Drei Dimensionen sind dabei entscheidend:

  • Das Aufgabenspektrum aus Alltagsbegleitung, Hauswirtschaft und Grundpflege wird von Angehörigen und Nachbar*innen übernommen. Daher sind diese in der Bedarfs- und Einsatzplanung unmittelbar und vollwertig zu berücksichtigen.

  • Pflegelotsen organisieren die Einbindung von Angehörigen und Nachbar*innen sowie die Abstimmung mit klassischen ambulanten Diensten, um etwaig benötigte komplexe Grundpflege und Behandlungspflege zu gewährleisten.

  • Die Pflegebedürftigen selbst sollen in die Lage versetzt werden, ihren Alltag selbstbestimmt zu organisieren. Sofern gewünscht treten sie als gleichwertige Akteure hinzu. 

Die simple und dennoch passgenaue digitale Unterstützung erlaubt es allen Beteiligten einer Sorgegemeinschaft, sich überhaupt organisieren zu können. Bisher sind Angehörige und Nachbar*innen weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen. Daher verbleibt die Unterstützung im punktuellen, ehrenamtlichen Bereich.

Innovationen und IT-Entwicklungsschritte

Die QuartierPflege-IT-Landschaft soll integrierend wirken und es informell Pflegenden so erleichtern, an der professionellen Pflege teilzuhaben. Dazu arbeiten wir mit führenden Anbietern von Software-Lösungen für ambulante Dienste zusammen. Denn die QuartierPflege ist ein ambulanter Dienst aus Nachbar*innen.

Die zwei Grundthesen lauten:

  • Über punktuelle Erweiterungen von Bestandssoftware können wir die Rollen von Angehörigen, Nachbar*innen und Fallmanager*innen stärken.

  • Die Zusammenarbeit mit den führenden Anbietern von Bestandssoftware erlaubt es uns, rasch und effektiv QuartierPflege in ganz Deutschland bekannt zu machen und einzuführen.

Wir sehen drei große Bereiche für die Weiterentwicklung von Bestandssoftware

  1. Ambulantes Fallmanagement unterscheidet sich in Funktion und Rollenprofil von einer Pflegedienstleitung. Es geht um die Organisation von Angehörigen, freiwilligen Nachbar*innen und einen direkten Quartierbezug innerhalb dessen strategische Kooperationen mit ambulanten Diensten, Ärzt*innen und Vereinen.

  2. Netzwerkmanagement innerhalb eines Netzwerkes von 3 bis 6 Nachbar*innen und Angehörigen pro Pflegefall und Management aller Netzwerke in einem Quartier aus 1.500 Bewohner*innen. Das betrifft Einfluss auf die Einsatzplanung, Springerlösungen, Abrechnung und Versicherung von Nachbar*innen.

  3. Stärkung der Rolle der Angehörigen als Netzwerkmanager*innen für ihren Pflegefall. Hier geht es uns um Einsatzplanung und Bedarfsanmeldung sowie die Abstimmung zwischen lokalem Fallmanagement und dem quartierbezogenen Fall-Management.

  4. Weitere Bereiche können hinzutreten. Etwa die Brücke zwischen Entlassung aus Kliniken und dem Fallmanagement oder der ansatzlose Übergang in Sterbebegleitung.


Vorgehen Phase I

August 2022 bis September 2023

Ziel und Vision der Forschenden im Projekt QuartierPflegeApp ist es, Pflegegemeinschaften in den Bereichen Fürsorge, Hauswirtschaft und Grundpflege zu stärken. Im 50/50 Gemeinschaftsprojekt der Gesellschaft für Gemeinsinn und der TU Chemnitz wurden hierfür Vorarbeiten für die Entwicklung einer integrierten IT-Systemlandschaft geleistet.

Analyse bestehender IT-Systeme

Wir analysierten die IT-Systeme in ambulanten Diensten und bewerteten Pflege-Applikationen für Angehörige und Menschen mit Unterstützungsbedarf. Bewertungsmaßstab ist einerseits die praktische Umsetzbarkeit der QuartierPflege in all ihren Abläufen und es ist andererseits der Grad der Abdeckung der Wünsche und Bedürfnisse unserer Zielgruppen. Wir haben uns ausführlich mit folgenden Lösungsoptionen beschäftigt:

  • Connext Vivendi, Caresocial GmbH, Convela, Cura-Soft

  • dealSoft, Dein Nachbar e.V., Deutsches Medizinrechenzentrum

  • Euregon, Helferportal, KPS Software GmbH, Adiutabyte

  • MedifoxDan, nubedian GmbH, Mein Pflegedienst

  • Pflegepioniere, Compu Group Medical, healtx-future

  • Eldertech, Nui Care, digirehab

  • DAK - ihr Anliegen, staffbase, mitunsleben, geteimy

Gemeinsam mit ausgewählten Anbietern dieser bereits vorhandenen IT-Lösungen haben wir die voraussichtlich gewünschten Weiterentwicklungen besprochen. So können wir eine passgenaue digitale Lösung erarbeiten, ohne das Rad gänzlich neu zu erfinden.

Interview-Auswertungen

Parallel dazu wurden Bedürfnisse identifiziert sowie Rollen und Abläufe zwischen Nachbar*innen, Angehörigen und professionellen Pflegefachpersonen in der QuartierPflege festgelegt. Hierzu wurden zielgruppenspezifische, ausführliche Interviews geführt und analysiert. Wir dokumentieren hier einen Ausschnitt aus dem Fragebogen für Angehörige. Das Gesamtinterview beinhaltet 37 Fragen.

  1. Wie läuft bei der Pflege von Angehörigen die Organisation / Koordination mit anderen Pflegenden (falls beteiligt)?

  2. Wie wichtig ist es Ihnen, dass die angesprochenen Nachbar*innen, die Ihre*n Angehörige*n unterstützen, für die Tätigkeiten qualifiziert sind? 

  3. Welche Bedeutung hätte bei einem solchen Netzwerk der Faktor, dass Sie, bzw. Ihr*e Angehörige*r die Nachbar*innen bereits kennen?

  4. Stellen Sie sich bitte vor, es gäbe eine Person bei Ihnen im Quartier, die dafür zuständig ist, die Unterstützung durch das oben beschriebene Netzwerk zentral für Ihre*n Angehörigen*n und andere zu organisieren, also auch den Einsatz einzelner Helfer*innen und die Abstimmung mit dem ambulanten Pflegedienst.
    Wie würden Sie sich damit fühlen? Was wäre Ihnen dabei besonders wichtig? Hätte das einen Einfluss auf Ihr Interesse, an dem Netzwerk teilzuhaben?

Die Interviewauswertung erfolgte über MaxQDA, ein System zur Analyse von Feldnotizen, Texten, Interviews und Transkripten. Aus der qualitativen Analyse leiten wir Bedürfnisse der Anspruchsgruppen ab und integrieren diese in die Konzeption der IT-Landschaft.


Vorgehen Phase II

Oktober 2023 bis Juli 2026

In Phase II arbeiten wir mit dem führenden Softwareanbieter für die Sozialwirtschaft Connext Vivendi zusammen und haben als wissenschaftliche Begleitung die HAW Hamburg gewinnen können Dort arbeiten wir mit dem Department Pflege und Management in Person von Prof. Dr. Corinna Petersen-Ewert sowie im Department Soziale Arbeit mit Prof. Dr. Dieter Röh zusammen.

Ziel der Förderphase II ist es, möglichst viele der Abläufe in der Organisation und Koordination der QuartierPflege durch die neu zu entwickelnde Software so zu erleichtern, dass die Sorgegemeinschaften hierdurch entlastet werden. Dabei werden bei der Definition der Anforderungen, Entwicklung und Testung der entsprechenden Software-Bestandteile immer wieder die verschiedenen Nutzer*innengruppen eingebunden. Nach Entwicklung von Prototypen einzelner Komponenten wird immer wieder deren Nutzen und Anwendung getestet und überprüft, um so die realen Bedürfnisse der Nutzer*innen für die nächsten Entwicklungsstufen berücksichtigen zu können.

An den Pilotstandorten der QuartierPflege können die jeweiligen Entwicklungsstufen bereits im realen Alltag erprobt werden, wodurch weitere wertvolle Erkenntnisse gesammelt werden, die in die folgenden Weiterentwicklungen einfließen.

Die QuartierPflege hat neben der Organisation von Unterstützungsleistung auch initial das Ziel, das Leben in Gemeinschaften aufzuwerten, Tendenzen zu Vereinsamung entgegenzuwirken. Durch das Hinzutreten der HAW als neuer wissenschaftlicher Konsortialpartner ergibt sich die Möglichkeit, die QuartierPflege und ihre Softwarelösungen noch besser in die gesellschaftliche Realität einzubetten. Zu diesem Zwecke wird spezifisch das Verhalten der Teilnehmenden in den Netzwerken analysiert, um ggf. Versorgungslücken sichtbar zu machen.

Menschen mit Behinderung kommen in Phase II des Projekts als neue Zielgruppe hinzu. Für sie stellt sich die Situation in gesellschaftliche Realität häufig besonders prekär dar, daher bieten sich für sie durch die Entwicklung der QuartierPflegeApp besondere Chancen, eine stärkere lebensweltliche Ein- und Anbindung an „natürliche“ Sorgenetzwerke zu erreichen.

Im Verlauf der Phase II soll also Software entwickelt werden, in der die für die QuartierPflege notwendigen Rollen und Abläufe prototypisch umgesetzt sind. Grundlage dafür sind die Ergebnisse aus Phase I und weitere Erkenntnisse aus dem Entwicklungsprozess in Phase II. Damit werden am Projektende für alle Zielgruppen funktionstüchtige, prototypische Software-Anwendungen vorbereitet sein, die im Anschluss an dieses Projekt umgesetzt und auf dem Markt angeboten werden sollen. Es soll dabei voraussichtlich verschiedene Anwendungen für die Nutzer*innengruppen geben (Nachbar*innen, Pflegebedürftige, Fall- und Fokalmanagement), da diese sehr unterschiedliche Bedürfnisse an die Bedienung von Software haben und im Konzept der Software auch stark abweichende Funktionsumfänge bedienen werden. Für Nachbar*innen und Pflegebedürftige geht es primär um Terminabstimmungen, wohingegen das Fallmanagement bspw. auch Abrechnungsthemen mit den Pflegekassen bearbeitet.

Umsetzung in der Praxis

Die ABE Zuhause bringt als neuer Projektpartner die Perspektive des professionellen und informellen Sektors ein. Die ABE Zuhause trägt Teile des Fallmanagements und stellt im Piloten Leipzig auch Teilnehmer*innen der informellen Sorgegemeinschaften an oder bindet diese im Ehrenamt: Menschen mit Unterstützungsbedarf, wenn sich diese auch in Alltagsbegleitung, Hauswirtschaft oder Grundpflege für Dritte engagieren, pflegende Angehörige und Nachbar*innen. Das Netzwerk, das durch QuartierPflege entsteht, schlägt also die Brücke zwischen informellen Sorgegemeinschaften und dem professionellen Sektor. Daher werden von der ABE Zuhause bereits in der ersten Phase Anforderungen an die Software aus diesem Blickwinkel definiert. Daneben wird auch die IT-Abteilung mit ihren spezifischen Erfahrungswerten Bestandteil des Projektteams und bei der Anforderungsdefinition mitwirken.

Hinzu kommt im Rahmen der Weiterentwicklung der QuartierPflege für Menschen mit Behinderung der Fachbereich Teilhabe und Inklusion. Auch hier sind einerseits die Praktiker*innen gefragt; andererseits wird es auch darum gehen, Zugang zur Zielgruppe „Menschen mit Behinderung“ selbst zu erlangen, damit diese aktiv an der Anforderungsdefinition teilhaben kann. Je nach Ausprägung der Behinderung kann auch Betreuung von Menschen mit Behinderung im Rahmen der Teilnahme am Projekt Aufgabe der ABE Zuhause sein. Menschen mit Behinderung und ihre Betreuer*innen machen insgesamt ca. ein Drittel der Zielgruppe der Pflegebedürftigen aus. Zumal in den Zielgruppen auch Dopplungen bestehen. Ältere Menschen haben bisweilen auch einen Behindertenausweis.

Im weiteren Verlauf werden alle benannten Akteure aus dem Bereich der ABE Zuhause selbstverständlich aus ihren jeweiligen Perspektiven die entstehende Software auf Funktionalität und Nutzereignung testen und bewerten, sodass sie aktiver Teil der iterativen Weiterentwicklung werden.

Im Bereich der Demonstration vor Ort kommt der ABE Zuhause genauso eine wichtige Rolle zu wie bei der Erarbeitung des Schulungskonzepts für die Nutzer*innen der Software. Hier ist der Blickwinkel der Praktiker*innen entscheidend.


Technische Umsetzung

Als technologisch-wirtschaftlicher Partner im Verbund leistet Connext Vivendi die Entwicklungsarbeit an der Software. Die grundsätzliche Herangehensweise hierbei ist es, das große Portfolio an Software-Produkten so zu erweitern, dass die für QuartierPflege notwendigen Prozesse gut abgebildet und für die informellen Sorgegemeinschaften nutzbar gemacht werden. Da die QuartierPflege an vielen Punkten ähnlich wie ein ambulanter Pflegedienst agiert, kann dabei auf eine Vielzahl von bereits erprobten Funktionalitäten zurückgegriffen werden, die aus der Perspektive dieses Projekts verändert und erweitert werden.

Abbildung: Beispielvisualisierung Userexperience Pflegebedürftige

Die größte Veränderung zu bisher etablierten Lösungen ist die Erweiterung des Rollenkonzepts, wodurch im ersten Schritt pflegende Angehörige und Pflegebedürftige zu aktiven Teilnehmer*innen der Abläufe gemacht werden. Der zweite Erweiterungsschritt bezieht sich auf die Nachbar*innen, die ebenfalls nur flüchtig in der Systematik von ambulanter Pflegesoftware vorkommen. Ihre Rolle als freiwillig Helfende mit diversen Stufen des Engagements und entsprechender Verbindlichkeit abzubilden, ist entscheidend für die notwendige Vergrößerung der informellen Sorgegemeinschaften und damit eine entscheidende Neuerung im Vergleich zu bisheriger Software im Bereich ambulanter Pflege. Schließlich ist die Rolle des lokalen Fall- und Fokalmanagements eine bisher gänzlich unentwickelte. Sie weist zwar Ähnlichkeiten zu den Aufgaben von Pflegedienstleitungen auf, hat aber insbesondere im Bereich des Netzwerkmanagements davon abweichende und erweiternde Aufgaben, die ebenfalls in der Software abgebildet werden.

Um keine exklusive Insellösung zu bauen, wird Connext Vivendi die QuartierPflege-spezifischen Prozesse durch Entwicklung einer individuellen API für andere Marktteilnehmer öffnen. Damit wird gewährleistet, dass die Verbreitung des Modells nicht an die Nutzung von proprietärer Software von Connext Vivendi gebunden ist. Wenn also an Standorten Anbieter von QuartierPflege eine andere Software nutzen, in der die Prozesse der QuartierPflege ebenfalls abgebildet sind (was beispielsweise durch Vergabe von Subaufträgen im Rahmen dieses Projekts angestrebt wird), kann diese per Datenaustausch mit der neu entwickelten Software kommunizieren. 

Die grundlegende Idee der Auftragsvergabe in Form einer „Auktion“ nach dem Prinzip first come first serve ist als solche nicht auf den Anwendungsfall der QuartierPflege beschränkt. Vielmehr kann dieses Funktionsprinzip theoretisch auf jede Form von Dienstleistung, die auf freiwilliger Basis in Netzwerken erledigt wird, angewendet werden. So könnten in Zukunft bspw. weitere nachbarschaftliche Unterstützungen, die nicht pflegebezogen sind, Eingang finden und so im Nebeneffekt sogar neue Mitwirkende für die QuartierPflege gewonnen werden. 


Fördermaßnahme zu Interaktiven Technologien für Gesundheit und Lebensqualität im Rahmen des Förderschwerpunktes „Technologiegestützte Innovationen für Sorgegemeinschaften zur Verbesserung von Lebensqualität und Gesundheit informell Pflegender
— Bundesministerium für Bildung und Forschung